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Texte von Hanna Ziegler


Das Felsbild

 

Jetzt seid ihr hier, euer Stab wie ein Baum. Wurzelig und dunkel war der Weg in die alte Grotte. Je tiefer ihr in die Kälte gestiegen seid, desto stärker habt ihr meine verwilderte Angst gerochen – und das Blut. Augen im Dunkel, geduckt, gefletschte Zähne, krummes Wesen, das euch beäugt. 

 

Wer bin ich? 

 

Ihr denkt an den zurückgelegten Weg von roter Blüte zu roter Blüte, im Wald, im Schatten, in der Sonne, im Mondlicht. Hier im Felsen vergesst ihr das Zyklische, das sich ewig Drehende. Die Zeit scheint endlich. Ihr spürt das Zittern, das durch den Felsen geht. Mein Zittern. Meine Kraft.

 

Wer bist du?, fragt ihr. Was bist du? Bist du ein Wolf oder ein Ahorn? 

fragt ihr. 

 

Ich bin der Schatten; ich bin die Wölfin. Ich bin die Wölfin, die hierherkam, um ihre Welpen zu werfen. Ich bin der Fels, ich bin die Höhlenmalerei. Ich bin die Ahnin, die sie töteten. Mit meinem Blut sind die Wände dieser Grotte bemalt. Ich trete, trete, trete hervor aus dem Felsen. Ich bin eure Ahnin, die hierherkam, um die Welpen zu gebären und ich trete jetzt hervor aus dem Felsen.

Das Wesen finden, eine technische Anleitung:

  1. Lichtkante zackig weiterführen

  2. Ins Abstrakte folgen

  3. Um die Ecke gehen

  4. Graphisch und unsymmetrisch

  5. Präsente Wangenknochen unterstreichen

  6. Von euren Körpern lernen 

  7. Oder voneinander

  8. Schnauze höher setzen

  9. Augen stärken

  10. Ein Auge so, das andere so

  11. In die Richtung fliessen

  12. Und hier auch: Wuuuuscchhh

  13. Von der Textur leben

  14. Kontur zerbrechen

  15. Mond anheulen

  16. Grimmig schauen

Das Wissen um den Wolf

Ich gehe meines Weges. Dabei nährt mich eine stille und geheime Kraft: das Wissen um den Wolf. Ich kann ruhig und friedvoll sein, weil ich weiss, dass der Wolf in mir haust. Ich weiss noch, wie ich jung war und den Wolf schon spürte, doch ihn fürchtete und von mir wies. Heute ist er die Mitte, aus der mein Vertrauen wächst. Plötzlich kann er seine Zähne fletschen, wenn Gefahr lauert. Sanft kann er sich ins Rudel fügen, wenn ich mich in mir sicher fühle. Die Menschen, die mir begegnen, sie verstehen nicht, was sie spüren, sie würden es vielleicht meine ruhige Würde nennen. Sie spüren den Wolf und zollen ihm Respekt. Ich brauche ihn nicht nach aussen zu tragen, denn er tut seine Wirkung aus mir heraus. Er braucht keine Worte, keine Erklärung. Er ist. Er wirkt aus mir in das Leben. Er lebt durch mich; ich lebe durch ihn.

Der mit den Masken spricht

Im Keller, im Dunkeln geschieht das letzte Werden. Da springt mich eine Idee an, befremdend, dass Liebe und Befremdung ganz nahe beieinander liegen. Lieben heisst das Fremde in mir, im Gegenüber, in seiner Maske zu achten. Ich darf dienen, damit diese Wölfe ihren Weg in ihr ganz eigenes Sein finden. Ein Sein, das aus der Tiefe kommt. Ich gebe ihnen nicht meinen Charakter: ich horche, was die Formen sagen.

 

Heute stelle ich mich der letzten Maske. Es ist die gefährlichste. Sie macht mir Angst mit ihren grossen Zähnen. Für die Arbeit mit ihr muss ich vom Tageslicht wissen, auch wenn ich mit ihr im Keller bin. Ich muss mich erst reinigen, keine alten Gerüche an sie herantragen, an die Nase der Maske. Vielleicht, vielleicht muss ich mich dann weniger vor diesem Säbelzahnwolfsgesicht fürchten. Ich strecke noch ein wenig die eigene Nase ans warme Herbstsonnenlicht. Danach hinab. Wer weiss schon, was unten wartet? Es braucht Mut, hinunter zu steigen.

 

Die Formen sprechen zu mir. Die Formen sagen, wo, wie und wann ich mein Werkzeug zu gebrauchen habe. Den Unebenheiten und dort, wo das Fliessen stockt, dort gebe ich Form. Fremde Wesen, ich komme gut mit ihnen aus. Wie viel Zeit gehört hierher, zu den Formen und Kanten und Texturen – und wann beginne ich auszuhöhlen? Wann sind sie in ihrer höchsten Kraft? Wann schwingt alles so, wie es das Wesen verlangt? Konvex / konkav, spitzig / gerade, wie Berglandschaften. Ich hole Tag für Tag eine Faust Ton aus den Oberflächen heraus. Ich ertaste, wo es hingeht. Ich höre die Leute noch sprechen von ihren Wölf*innen, doch vor allem ist da ein Dialog mit den Formen, die jetzt mit mir da sind. Es ist ein Prozess, der Ruhe braucht. Mit ruhigem Auge alles betrachten und so lauschen, was der Wolf noch braucht, um zu erscheinen. Welche Asymmetrien im Gesicht seinen Charakter bilden.

Was schaut mich an?

Was schaut mich da an?, fragst du mehr dich als mich. Du siehst die Fugen, die mein Gesicht durchziehen. Du ahnst es schon. Obwohl sie vom Kintsugi schwärmen, hast du mich schon beinahe durchschaut. Ich lasse mich nicht mit Gold fügen.

Du siehst, ich bin nicht einer vom Rudel. Du fragst nach meiner Geschichte, als ob Narben immer was erzählen müssten. Manche Geschichten verlangen ein Schweigen.

Du sagst, ich sei in sechs Scherben zerbrochen und einige fehlen sogar, verschollen. Du willst da noch was reinarbeiten. Ich sehe nicht schön aus mit meinen Rissen. Meine Brüche tun dir weh, als ob ich dir nahestehe. Da irrst du dich, Mensch. 

Wer glaubst denn du zu sein, dass du die Wölfe rufst?, frage ich dich. Mir ist lieber, auch dir fehlen die Worte. Mir ist lieber, auch du schweigst.

In der Stille, im Dunkeln blicken wir uns an. Ich sehe dasjenige deiner Gesichter, das du am Tageslicht nie zeigst. Ich sehe, dass du nicht schön aussiehst. Ich sehe die Fugen, die sich durch dein Gesicht ziehen. Da fehlt etwas, sagst du über dich selbst. Du lässt dich nicht mit Gold fügen.

So stehen wir uns gegenüber mit unseren vernarbten Gesichtern. Verstummt.

Wir sind stumm, weil wir in diesem Sein keine Worte brauchen. Wir verstehen uns wortlos. Wir brauchen uns nicht zu erzählen, wie es dazu kam, dass wir nicht anzusehen sind. Ohne, dass wir es verhindern können, blicken wir uns bald voller Güte, voller Wohlwollen in die rissigen Fratzen.

Ein Name ist ein Zauberspruch

Ein Name ist ein Zauberspruch:

Am Anfang eines Lebens das suchende Wort.

Das Formlose wird erkennbar.

Das Fremde wird als das erkannt,

Was mir zutiefst vertraut ist.

Ich erkenne mich im Spiegel dessen,

Was ich erschaffe.

Ich antworte auf ein Wesen,

indem ich es benenne.

Ich erschaffe ein Wesen,

indem ich es benenne.

 

Ein Name ist ein Zauberspruch.

Er ist das Sprechen einer Frage.

Das Sprechen einer Frage bedeutet

Das Unendliche konkret werden zu lassen,

Dem Formlosen Form zu geben.

 

Wer begegnet mir?

Wer bist du?

Wen erlaube ich dir zu sein?

Wen erlaubst du mir zu sein?

Wie begegne ich dem, 

was meine Nähe sucht?

 

Ein Name ist ein Zauberspruch.

Ich kann benennen. Ich bin kraftvoll.

Ich erschaffe. Eine Frage, die auf

Fragen antwortet.

 

Ein Zauberspruch ist eine Frage.

Wir erschaffen und formen uns 

gegenseitig mit den Fragen,

die wir zu fragen wagen.

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